Datenblatt/Factsheets ME/CFS Lost Voices Stiftung

 

Myalgische Enzephalomyelitis/Chronic Fatigue Syndrome (ME/CFS)

Was ist ME/CFS?

  • ME/CFS ist eine derzeit unheilbare neuroimmunologische Erkrankung

  • Institute of Medicine (2015): „ME/CFS ist eine schwere, chronische, komplexe Multisystemerkrankung, die häufig und auf dramatische Weise die Aktivitäten der betroffenen Patienten einschränkt“

  • Die meisten Patienten sind arbeitsunfähig, schwer Betroffene pflegebedürftig

  • Kodierung in den ICD 10 der WHO unter G 93.3 (Erkrankungen des Gehirns)

Prävalenz

  • Internationale Prävalenzstudien: Circa 0,24- 0,42 Prozent Betroffenene in der Gesamtbevölkerung

  • 300.000 Betroffene in Deutschland (Schätzungen des Bundes-gesundheitsministeriums, 2002)

  • Laut Orphanet, dem Portal für seltene Erkrankungen, keine seltene Erkrankung

  • 17 Mio. Betroffene weltweit (Schätzung)

  • Frauen viermal häufiger betroffen

  • Häufiger Krankheitsbeginn zw. 30 und 45 Jahren

Symptome und Krankheitsverlauf



Symptome:

  • häufige Infekte
  • Anhaltende, massive Erschöpfung über 6 Monate hinaus

  • Aktivität auf mindestens 50 Prozent des gesunden Zustands reduziert

  • Zustandsverschlechterung nach Anstrengung

  • Dysfunktion des autonomen Nervensystems, z.B. orthostatische Intoleranz

  • Gelenk- und Muskelschmerzen

  • Schlafstörungen

  • kognitive und neurologische Einschränkungen

  • Immunologische Manifestationen wie Lymphschwellungen oder Halsschmerzen

Verlauf:

  • Häufig plötzlicher Beginn nach einem grippalen Infekt

  • Meist chronischer Verlauf, Remissionen sind selten (6 bis 12 Prozent)

Diagnose

  • Klinische Diagnosestellung, da derzeit keine eindeutigen Blutmarker oder bildgebende Verfahren existieren

  • Im Vorfeld Ausschlussdiagnostik anderer Erkrankungen mit Fatigue-Symptomatik nötig (z.B. Schilddrüsenstörungen, Borreliose, kardiologische Erkrankungen, MS)

  • Anhaltspunkte für ME/CFS können außerdem erniedrigte NK-Zellen und Funktion, aktivierte T-Zellen, erhöhte Zytokine oder messbare orthostatische Probleme sein

  • Etablierte Diagnosekriterien: Fukuda-Kriterien (1994), Kanadisches Konsensusdokument (2003) oder Internationale Konsensuskriterien (2011) (s. weiterführende Informationen)

Schwere der Krankheit

  • Krankheitsschwere reicht von mindestens 50-prozentiger Reduzierung der Aktivität (oft bereits arbeitsunfähig) bis sehr schwer (bettlägerig und pflegebedürftig)

  • Weniger als 20 Prozent sind noch berufstätig (norwegische Erhebung, 2014)

  • 25 bis 29 Prozent können Wohnung oder Bett nicht mehr verlassen (Institute of Medicine, 2015)

  • Schwere Formen können zu Lähmungen, Anfällen, Inkontinenz und lebensbedrohlichen Komplikationen führen

  • Studien zeigen vergleichbare Schwere wie bei MS, Lupus, COPD oder AIDS und Nierenversagen im Endstadium (CDC)

Therapieansätze

  • Derzeit keine zugelassenen Medikamente/ Standardtherapie

  • Therapieversuche mit immunologischen oder infektiologischen Ansätzen in Einzelfällen wirksam, aber noch nicht breit erforscht

  • Symptomatische Therapien (z.B. Schlaf- oder Schmerzmittel)

  • Schonender Umgang mit Energiereserven (Pacing)

Forschungsstand

  • Zahlreiche Studien zeigen biomedizinische Anomalien, u.a. des Immunsystems, des zentralen Nervensystems, des endokrinen Systems und des Herz-Kreislaufsystems

  • Die genaue Pathogenese ist jedoch nach wie vor unklar

  • Die Forschung weltweit ist chronisch unterfinanziert (in Dtl. so gut wie keine staatliche biomedizinische Forschung, USA: circa 6 Mio. Dollar jährlich vs. MS-Forschung über 100 Mio. Dollar jährlich)

Beispiele für aktuelle Forschungsansätze:

  • Norwegische Studie (Fluge et al., 2011) zeigt eine signifikante Verbesserung bei zwei Dritteln von ME/CFS-Patienten durch den monoklonalen Antikörper Rituximab (Phase III-Studien in Vorbereitung)

  • Studie der Charité (Loebel et al, 2014) zeigt mangelhafte spezifische Gedächtnis-B- und T-Zell-Antwort auf Epstein-Barr-Virus (EBV) – Hinweis auf beeinträchtige Kontrolle der frühen Stadien der EBV-Reaktivierung durch das Immunsystem

  • Studie der Columbia-Universität (Hornig et al. 2015) zeigt veränderte Immunsignaturen (die ersten drei Jahre erhöhte Zytokine, anschließend verminderte Zytokine ggü. Gesunden)

  • Neue Therapiestudie der Charité mit Immunabsorption initiiert

Medizinische Versorgung in Dtl.

  • Die Krankheit ist vielen Ärzten unbekannt, sie ist i.d.R. nicht Bestandteil der universitären Ausbildung

  • So gut wie keine biomedizinische Forschung; internationale Forschung fließt nicht in ärztliche Fortbildungen ein

  • Folgen: Hohe Dunkelziffer bzw. psychiatrische Fehldiagnosen mit potenziell schädigenden Therapien (Verhaltenstherapie, Aktivierung)

  • Zu psychiatrische Fehleinstufungen trägt auch der in Dtl. gängige Begriff „Chronisches Erschöpfungssyndrom“ bei, der bei Ärzten, Medien und Öffentlichkeit immer wieder falsche Assoziationen mit Burnout oder Depressionen auslöst

  • Aufgrund Unkenntnis oder Fehleinstufung im Gesundheitssystem so gut wie keine spezifische medizinische kassenärztliche Versorgung

  • Potenziell wirksame immunologische Therapien werden von Kassen nicht erstattet

  • Es gibt bundesweit nur eine Immundefektambulanz (Charité Berlin), die sich biomedizinisch mit dem Krankheitsbild befasst, für viele Betroffene nicht erreichbar

  • Versorgungszentren für schwer Kranke fehlen ganz

Forscher über ME/CFS

  • Nancy Klimas, Institut für neuro-immunologische Medizin, Southeastern University, Nova (Florida): „I split my clinical time between the two illnesses (ME/CFS + HIV), and I can tell you if I had to choose between the two illnesses (in 2009) I would rather have H.I.V“

  • Olav Mella, Onkologie Haukeland Universität Norwegen: „When we have cancer patients that are as sick as many of these patients are, they have a very short life expectancy. That says a lot about the quality of life for many of them.”

  • Carmen Scheibenbogen, Immunologie Charité: „Es wird geschätzt, dass etwa 300.000 Menschen in Deutschland an (…) CFS (…) erkrankt sind, oft so schwer, dass sie keiner beruflichen Tätigkeit mehr nachgehen können, ihre Familien nicht mehr versorgen können, oft zum Pflegefall werden. Und doch kennen in Deutschland viele Ärzte diese Krankheit kaum, gibt es keine Versorgungsstrukturen für Patienten, keine Forschung, keine Behandlungsmöglichkeit.“

  • Ian Lipkin, Center for Infection and Immunity
    Columbia University,
    “There is no question in my mind that this is a physical disorder. The fact that we haven‘t been smart enough or invested enough in it to sort that, doesn’t mean that this is anything else.”

Kontroverse

  • Innerhalb der ME/CFS-Forschung gibt es eine umstrittene Forschungsrichtung, die entgegen der WHO-Einordnung ein biopsychisches Krankheitsmodell zugrunde legt

  • Kernhypothese dieser Forschungsrichtung: Die Kranken litten an einer falschen Krankheitsüberzeugung

  • So hat z.B. das PACE Trial (Großbritannien, 2011) mit einer sehr breiten Probandenauswahl, die nicht sauber zw. ME/CFS-Patienten und Menschen mit Depressionen unterscheidet, Verhaltens- und Bewegungstherapie als hilfreich für eine geringe Zahl Betroffener identifiziert (http://www.lost-voices-stiftung.org/informationen/allgemeine-informationen/zur-pace-trial/)

  • Demgegenüber zahlreiche Studien, die Verhaltens- und Bewegungstherapie nicht nur als wirkungslos, sondern sogar schädlich einstufen

  • Dennoch starker Einfluss dieser Forschungsrichtung in D. und international auf Therapieempfehlungen und gesundheits-politischen Umgang mit der Krankheit

  • Auch die Leitlinie Müdigkeit der Deutsche Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin, unter der in Dtl. ME/CFS abgehandelt wird, ignoriert weitgehend biomedizinische Forschung und folgt primär psychischen Krankheitsmodell

  • Ein kürzlich veröffentlichter Bericht des Robert-Koch-Institutes (2015)
    fokussiert sich mehrmals auf eine psychosomatische bzw.
    psychosoziale Genese und stellt die Schwere der Erkrankung und den
    Symptomkomplex nicht korrekt dar. Es standen keine ausreichenden
    Ressourcen und keine genuine Expertise zur Verfügung.
  • Problem aus Sicht von Patientenvertretungen weltweit ist auch der Name: Weiter verbreitet als der zuerst eingeführte Begriff Myalgische Encephalomyelitis, wecken „Chronic Fatigue Syndrome“ oder „Chronisches Erschöpfungssyndrom“ eher Assoziationen mit Burnout oder Erschöpfungsdepressionen als mit einer schweren organischen, i.d.R. unheilbaren Krankheit. Das amerikanische Institute of Medicine hat im Febuar 2015 als neuen Namen „Systemic Exertion Intolerance Disease (SEID)“ vorgeschlagen

Weiterführende Informationen:

 

         

Datenblatt/Factsheet LVS 04_2016
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Positionspapier Lost Voices Stiftung Politik Gesundheit & Soziales

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