Stellungnahme Volltext

Hannover, 23.02.2011: Britische Forscher berichten im Fachmagazin The Lancet aktuell über eine groß angelegte Studie (Pace Trial¹) mit mehreren Therapienverfahren zu ME/CFS (Myalgische Encephalomyelitis/Chronic Fatigue Syndrome). Das Ergebnis der Pace Trial kommt für erfahrene Wissenschaftler, Ärzten und  Patientenorganisationen weltweit, die sich mit dem britischen Gesundheitssystem zu ME/CFS auskennen, nicht überraschend. Schon im Voraus war abzusehen, dass die Ergebnisse durch ungeeignete Probandenauswahl verzerrt werden würden.

 

Es gibt weltweit bisher nur eine Klinische Definition zu ME/CFS. Diese Definition „ME/CFS Klinische Falldefinition und Leitfaden für Ärzte (Kanadisches Konsensdokument)“³ wurde 2003 im Auftrag der kanadischen Gesundheitsbehörde von einem Expertenkomitee aus Forschern und Klinikern erstellt. Die Erkenntnisse basieren auf eigener Diagnostik und Behandlung von mehr als 20.000 ME/CFS-Patienten. Das Expertenkomitee kam zu dem Schluss, dass sich die Symptomatik der ME/CFS von der somatoformer Störungen („Somatization Disorder“) grundlegend unterscheidet. Nach seiner Erfahrung gibt es eine Reihe von objektiven Zeichen, anhand derer ME/CFS von den Somatisierungsstörungen zu unterscheiden und das Myalgische Encephalomyelitis/ Chronic Fatigue Syndrome als eine biologische Erkrankung einzustufen ist. Diese Arbeitsgruppe referiert bei den körperlichen Symptomen der Erkrankung u. a. Abweichungen der kardialen- und Kreislaufregulation, Hirnfunktionsstörungen, Störungen in der Immunabwehr und neuroendokrine Störungen.

 

Die amerikanischen Fukuda-Kriterien wurden 1994 entwickelt. Die meisten Studien zu ME/CFS basieren auf dieser. Sie sind  zunächst nur für Forschungszwecke entwickelt worden, bilden daneben aber bis heute meist auch die Grundlage für die Diagnose der Erkrankung. Das Kanadische Konsensdokument führt, verglichen mit den Fukuda-Kriterien, weniger zur Auswahl psychiatrischer Erkrankungen, sondern mehr zur Auswahl schwerer körperlicher Beeinträchtigungen, Erschöpfung oder Schwäche und neurokognitiver Symptome und wird daher von vielen Forschern4 und Patientenorganisationen weltweit als gängige ME/CFS-Kriterien eingefordert.

 

Trotz dieser und weiterer entscheidender wissenschaftlicher Durchbrüche wird ME/CFS immer noch als medizinisch ungeklärte Erkrankung beschrieben. Psychotherapie (kognitive Verhaltenstherapie - CBT) und stufenweise gesteigerte körperliche Aktivierung/ Belastung (Graded-Exercise Therapie – GET) werden als die einzig möglichen Therapieformen erklärt. Eine gründliche Analyse der gegenwärtigen medizinisch-wissenschaftlichen Literatur und internationaler Patientenumfragen belegt jedoch, dass kognitive Verhaltenstherapie und Graded-Exercise-Therapie für die Mehrheit der ME/CFS-Patienten nicht nur wirkungslos, sondern potentiell sogar äußerst schädlich sind. Wissenschaftliche Studien und groß angelegte Patientenumfragen haben gezeigt, dass die Behandlung mit CBT/GET den Zustand vieler ME/CFS-Patienten erheblich verschlechtert. Die Arbeitsfähigkeit sank ebenfalls infolge dieser Therapien (Studie Frank N.M. Twisk and Michael Maes²).

 

ME/CFS ist keine neue Erkrankung. Die ME wurde offiziell in der 8. Version der „Internationalen Klassifikationen von Krankheiten“, ICD-8 der Weltgesundheitsorganisation (WHO), im Jahre 1969 als eine Erkrankung des zentralen Nervensystems klassifiziert. Dieweltweiten Forschungen führen in vielen Ländern zu einer Verbesserung der Versorgung der Patienten. Die CDC (Centers for Disease Control, die höchste Gesundheitsbehörde der USA) hat die Bekämpfung der Erkrankung mit der höchsten Priorität belegt und führte millionenschwere Werbekampagnen zur Aufklärung durch. Auch das norwegische Gesundheitsministerium misst der Bekämpfung von ME/CFS höchste Priorität zu. Im Universitätskrankenhaus in Oslo entstand 2008 ein Spezialzentrum zu ME|CFS. Man startete zunächst mit einer Spezialambulanz. Eine Erweiterung des Zentrums um eine Station für Schwersterkrankte ist in Planung.

 

In Deutschland dagegen gibt es kein einziges Versorgungszentrum, um eine angemessene medizinische Versorgung zu gewährleisten. Forschung fand bisher so gut wie nicht statt. Die Ergebnisse der internationalen Forschung werden kaum zur Kenntnis genommen und fließen nicht in die ärztlichen Fortbildungen ein. Daher verwundert es nicht, dass jetzt große Aufmerksamkeit auf das Ergebnis der Pace Trial erfolgt. Leider wird in Deutschland fast ausschließlich bei den wissenschaftlichen Erkenntnissen nach Großbritannien geschaut. Schon bisher galten die Oxford-Kriterien, die in Großbritannien Verwendung fanden, auch in Deutschland als evidenzbasiert. Viele deutsche Ärzte verfügen nicht über die nötigen Kenntnisse um  die verschiedenen Kriterien  unterscheiden zu können. Die Oxford-Kriterien finden nur in Großbritannien Anwendung und sind auch dort sehr umstritten. Erfahrene Mediziner und Forscher, britische Patientenorganisationen und Teile der Politik setzen sich seit Einführung der Leitlinie NICE-Guideline (basiert auf den Oxford-Kriterien) für eine Absetzung derselben ein. Ansonsten finden sie nur in deutschsprachigen Ländern Beachtung, die keine eigene Forschung und Versorgungsstrukturen zu ME/CFS haben und dadurch keine eigenen Erfahrungen und Studien besitzen. Davon abgesehen ist die NICE-Guideline weltweit bedeutungslos. Die Definition des ME/CFS, wie sie hier verwendet wird, ist so verwässert, dass sie beinahe alle Fälle von ungeklärter Erschöpfung mit einschließt. Somit sind die getroffenen Aussagen im Hinblick auf Menschen, die tatsächlich an einem ME/CFS leiden, wie es den Fukuda-Kriterien oder den kanadischen Kriterien entspricht, schlicht nicht zutreffend.

 

Neben der Problematik, dass viele Probanden in der Pace Trial berücksichtigt wurden, die an einer Depression litten, wurden Menschen mit neurologischen Symptomen ausgeschlossen, was bei einer neurologischen Erkrankung wie ME/CFS mehr als fragwürdig erscheint. Menschen die tatsächlich an  ME/CFS erkrankt sind, blieben dadurch ohne Berücksichtigung.

 

 Hier finden Sie mehr über die Pace Trial (engl.)

 

Die undifferenzierte Behandlung von ME/CFS durch kognitive Verhaltenstherapie und Bewegungstherapie (z.B. "graded exercises"), der kein Verständnis der beschriebenen Ursachen von ME/CFS zugrunde liegt und die somit auf die häufig extrem - ja für einen Nicht-Betroffenen unvorstellbar - geringe Belastbarkeit eines ME/CFS-Patienten keine Rücksicht nimmt, kann zu gravierender, langfristiger und definitiver Verschlechterung des Zustandes führen. Mehrere Studien belegen die Gefahr der Verschlimmerung durch CBT/GET bei ME/CFS.

 

Wir begrüßen es sehr, dass endlich auch in Deutschland über diese schwerwiegende Erkrankung berichtet wird. Die teilweise unqualifiziert geführten Diskussionen zeigen, wie wichtig es ist, die deutsche Öffentlichkeit aufzuklären und eine bessere ärztliche Fortbildung einzufordern. Aktuell werden deutsche Betroffene überwiegend von den verschiedenen   Patientenorganisationen bundesweit aufgefangen. Wir hoffen, dass diese Arbeit künftig auch von informierten und gut ausgebildeten Ärzten und Therapeuten erfolgt und die Kostendeckung für die medizinische Versorgung von Seiten der Krankenkassen gewährleistet wird.

 

Auch wenn ME/CFS eine organische Erkrankung ist gibt es Erkrankte, für die es hilfreich sein kann, psychologisch von erfahrenen ME/CFS-Therapeuten begleitet zu werden. Studien weisen darauf hin, dass beim ME/CFS die Heilungsrate (der Patient erreicht den Zustand wieder, in dem er sich vor der Erkrankung befand) bei max. 6 % liegt. Die extreme Erschöpfung bzw. Erschöpfbarkeit führt zu substanzieller Beeinträchtigung der Lebensqualität. Die Betroffenen und deren Angehörige müssen lernen, mit dieser schwerwiegenden Situation zu Recht zu kommen. 

 

Mit freundliche Grüßen

 

Nicole Krüger

Lost Voices Stiftung 

 

Literaturliste

 

1. Comparison of adaptive pacing therapy, cognitive behaviour therapy, graded exercise  therapy, and   specialist medical care for chronic fatigue syndrome (PACE): a randomised trial The Lancet:

10.1016/S0140-6736(11)60096-2 (http://www.thelancet.com/journals/lancet/article/PIIS0140-6736%2811%2960096-2/abstract)

 

2. (Twisk FNM, Maes M. A review on Cognitive Behavorial Therapy (CBT) and Graded Exercise Therapy (GET) in Myalgic Encephalomyelitis (ME) / Chronic Fatigue Syndrome (CFS): CBT/GET is not only ineffective and not evidencebased, but also potentially harmful for many patients with ME/CFS. NeuroEndocrinol Lett. 2009 Aug 26;30(3):284-299.) 

(Der Gesamttext kann - kostenlos - hier angefordert werden)

 

3. ME/CFS Klinische Falldefinition und Leitfaden für Ärzte kanadisches Konsensdokument Journal of Chronic Fatigue Syndrome, Vol.11(1)2003

www.cfs-aktuell.de/Konsensdokument.pdf

 

4. The Development of a Revised Canadian Myalgic Encephalomyelitis Chronic Fatigue Syndrome Case Definition American Journal of Biochemistry and Biotechnology 6 (2): 120-135, 2010 ,Corresponding Author: Leonard A. Jason, Department of Psychology, DePaul University, Center for Community Research, Chicago, Il, 60614, USA Tel: 773-325-2018 Fax: 773-325-4923 120

 

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